Wenn man magersüchtig ist, ist dies nicht nur für die betreffende Person eine riesige Belastung, sondern auch für deren Umfeld. Familienangehörige, die sehen, dass Ihr Kind die Kontrolle verliert und sich in eine lebensbedrohliche Situation hinein "verhungert", bringt auch die Eltern und Freunde zum verzweifeln. Im zweiten Teil erzählt Julia Ihre Geschichte und wie Sie die Magersucht besiegt hat.
In, Gramm für Gramm zurück ins Leben - Teil 1, kannst Du lesen, wie es dazu gekommen ist, dass Julia* (Name geändert) so stark abgenommen hat und die lebensbedrohlichne Situationen entstanden sind. In Teil 2 redet Julia offen darüber, was sie dazu gebracht hat, dass sich Ihre Einstellung geändert hat.
Hier Teil 2 Ihrer Geschichte
Mein Umfeld und ich
Ich wollte es mir selber ziemlich lange nicht eingestehen, dass ich ein Problem hatte. Wurde ich gefragt, ob bei mir alles in Ordnung sei, bejahte ich dies immer. In meinen Augen hatte ich ja schliesslich kein Problem! Auch blockierte ich all die vielen Versuche meiner Mutter mit mir über mein Essverhalten zu reden. Aus dem anfänglichen „nur ein wenig“ Abnehmen, ich hab ja alles bestens im Griff, wurde plötzliche eine Sucht über die ich letzten Endes die Kontrolle verlor. Meine Familie und mein damaliger Freund litten wohl besonders fest an der ganzen Situation. Sie machten sich alle unglaublich viele Vorwürfe, es gab viele Tränen und sie konnten es einfach nicht verstehen, warum ein fröhliches Mädchen sich freiwillig in einen immer dünner werdenden Zombie verwandeln wollte.
Ausserdem war ich oft schlecht gelaunt, weil ich zu wenig gegessen hatte und wollte am liebsten allein sein. Ich verlor meinen Lebensfreude und jegliche Lust etwas zu unternehmen. Viele trauten sich nicht mich anzusprechen. Meine Mutter suchte im Internet nach möglichen Therapien, Kliniken, die sie mir danach androhte. Erfolglos denn in meinen Augen hatte ich sowas nicht nötig. Meine Schwester muss sich wohl ziemlich vernachlässigt vorgekommen sein, da mein Problem meine Eltern ziemlich in Anspruch nahm.
Dummerweise, habe ich damals auch Komplimente für meine Figur bekommen, die mich dann in meinem Handeln bestätigten. Diese machten es mir dann auch schwer, gegen die Krankheit an zu kämpfen, weil ich mein „dünnes Ich „ ja auch schön fand.
Magersucht - Was war der Wendepunkt?
Ich hatte gerade mit meinem damaligen Freund gefrühstückt als ich mal wieder jammerte dass ich zu viel gegessen hätte. Mein Freund schaute mich an, schüttelte den Kopf und fragte, ob ich mir eigentlich bewusst wäre was ich mir da antun würde. Dann lief er davon, als er wieder kam, sah ich dass er geweint hatte. Ich sagte nichts, er hielt mich fest und sagte, dass er es einfach nur furchtbar fände, mir dabei zusehen zu müssen wie ich mich langsam aber sicher selber umbringe. Er halte das nicht mehr aus und er hätte sich in mein altes Ich verliebt.
Irgendwie setzte dieses Statement etwas in Gang. Ich kannte meinen Freund bis dahin nur als sehr fröhliche Person und war total irritiert als ich ihn weinen sah. Mir wurde plötzlich bewusst wie viel Leid ich meiner Familien, Freunde, usw. mit meiner blöden Esserei antat. Ausserdem hatte ich nach dem Essen eines Tellers voll Zucchetti ein unheimlich schlechtes Gewissen und dies obwohl ich wusste das 100g Zucchetti gerade mal 16kcal hatten. Mir wurde klar, dass es so nicht weiter gehen konnte. Dies erzählt ich meiner Mutter, die nur noch weinte, jedoch unglaublich froh war, dass ich es endlich eingesehen hatte was für ein riesen Mist ich da tat. Sie versprach mir zu helfen aus diesem Teufelskreis auszubrechen.
Wie geht es mir jetzt?
Eigentlich geht es mir gut. Ich habe zugenommen, jedoch weiss ich jetziges Gewicht nicht! Und das will ich auch nicht! Die Waage meide ich aus Angst, dass sie zu“viel“ anzeigt, denn ich möchte meinen Tag und mein Selbstwert nie mehr von der Zahl auf der Waage abhängig machen. Das Leben hat nämlich definitiv mehr zu bieten als irgendwelche Kcal Angaben auf Lebensmittelverpackungen. Ich hab tolle Freunde und eine Familie, die mich so gerne hat wie ich bin. Sendungen, wie Germany’s next Topmodel, schaue ich prinzipiell nicht gerne, da ich mich dann immer irgendwie schlecht fühle und an meine Zeit als Magersüchtige zurückerinnert werde. All die dünnen Models, das ewige Vergleichen – boa, ist die dünn, so wäre ich auch gerne! – sind pures Gift!
Das Vergleichen mit anderen Frauen ist geblieben, jedoch weiss ich nun auch dass ich mehr kann als nur dünn sein! Mit jedem Gramm, das ich zugenommen habe, verschwanden diese manipulierenden selbstzerstörenden Gedanken ein wenig mehr. Langsam und step by step verlor das Thema Essen seinen omnipräsenten Stellenwert aus meinem Leben. Mit jedem Bissen kehrten Lebensfreude, Energie, Gesundheit, usw. wieder in mein Leben zurück! Komplimente wie, du sieht viel besser aus als vorher – geben mir manchmal zu denken, dann frage ich mich jeweils, ob es so offensichtlich ist, dass ich zugenommen habe. Ich weiss, die Leute meinen dies wirklich als nett gemeintes Kompliment, aber für mich ist es schwer dies so anzunehmen. Ich weiss, dass es mir körperlich und auch psychisch heute viel besser geht als damals, aber trotzdem fällt es mir manchmal schwer mich bzw. meine Figur so zu akzeptieren wie sie ist.
Was mir von meiner Krankheit geblieben ist: Irgendwie spüre ich, ob jemand dem ich begegne ein Essproblem hat. Ich kann nicht erklären wieso, es gibt kein bestimmtes Anzeichen. Zudem lege ich nach wie vor sehr viel Wert auf eine gesunde Ernährung. So passiert es mir immer wieder, dass ich von verschiedenen Seiten zuhören bekomme, wie gesund ich doch esse. Naja ich kann halt irgendwie nicht anders, da ich irgendwo dieses gesunde/ungesunde Lebensmittel-Schema noch im Kopf habe und die Kalorienangaben vieler Lebensmittel sind mir, auch wenn ich dies eigentlich gar nicht möchte, bis heute geblieben.
Mein Körperwahrnehmung
Des Weiteren ist meine Körperwahrnehmung immer noch ein wenig „verschoben“, so gibt es Tage an denen ich mich unwohl fühle und mich „breiter“ wahrnehmen als ich in Wirklichkeit bin. Dann „vermisse“ ich manchmal das zierliche Wesen, das ich einmal war. Trotz allem bin ich sehr froh, dass ich die Krankheit hinter mir gelassen habe. Nun kann ich wieder mit meinen Freunden essen gehen ohne Panik zu kriegen. Ich mag es total mit ihnen zu essen, weil ich dann sehe wie schön Essen doch sein kann und wie sie alle so einen völlig unverkrampften Umgang mit Essen haben. So sind wir erst kürzlich in die Pizzaria gegangen und danach haben sie sich noch ein riesen Dessert gegönnt. Ich esse auch wieder gerne, allerdings noch nicht alles. Kriege ich ein Stück Kuchen, Schokolade oder so offeriert, packe es dankend ein und versuche es irgendwie loszuwerden (Verschenke es an meine Studienkollegen oder bringe es meiner Familie zum Dessert nachhause).
Ich versuche mich nun selber so zu mögen und zu akzeptieren wie ich bin. Denn eigentlich bin ich dankbar, dass ich gesund auf die Welt gekommen bin und das Glück habe hier in der Schweiz zu leben.
Ich und die Zukunft
Es wird wohl nie mehr so sein wie vor der Essstörung. Auch wenn ich mir den unbeschwerten Umgang mit Essen, den ich vor der Magersucht hatte, wieder zurück wünsche. Einfach geniessen und im Restaurant bestellen worauf man wirklich Appetit hat. Ich hoffe fest, dass ich dies eines Tages wieder kann! Und zwar ganz ohne schlechtes Gewissen!
Magersucht ist eine ernstzunehmende Krankheit. Man sollte die Betroffenen ansprechen und nicht bloss weg schauen, denn oft kommen sie ohne professionelle Hilfe nicht selber aus diesem Teufelskreis heraus!